Es ist Frühling!
Von Israel Shamir
Der Frühling hat in unserer nördlichen
Abgeschiedenheit Einzug gehalten: Der Schnee ist geschmolzen und
hat Wiesen aufgedeckt, die es irgendwie geschafft hatten,
blassgrün zu bleiben; das dicke Eis des Sees ist aufgebrochen
und hat sich ans Ufer hochgeschoben wie eine Menge weißer
Krokodile; nun weht ein warmer Wind und die Sonne scheint, als
ob sie es ernst meinen würde. Der Frühling ist gekommen, um den
wundervollen Winter zum Abschluss zu bringen: Unsere Seele
braucht sowohl die Dunkelheit als auch das Licht, und hier, am
60. nördlichen Breitengrad, einen Schneeballwurf vom Polarkreis
entfernt, wo ich einige Monate weg vom unbarmherzigen
mediterranen Sonnenschein verbringe, ist die Dunkelheit so
großzügig zuhauf geliefert worden, wie Berge von Eiscreme in
einem Kindertraum. Weiß Gott, ich habe mich nach Dunkelheit und
Abgeschiedenheit gesehnt – nach kalten, dunklen, tiefhängenden
Himmeln mit vielen blitzenden Sternen – nach schneebedeckten
Feldern und schneegeschmückten Kiefern – nach einer
tiefstehenden Sonne, nach der Trägheit eines späten Morgens,
nach kurzen Tagen und langen Abenden, nach richtigem Feuer im
Kamin, nach Schlittschuhen auf dem Eis und Ski an den Hängen –
und es wurde reichlich gegeben. Und jetzt ergießt sich ein Glanz
über unsere Welt, das die Auferstehung des Licht aus dem Licht
verspricht, Lumen de Lumine, Φώς εκ
φωτός.
Das ist die Zeit für gute
Nachrichten. In London hat die Palästinensische Solidarität
einen Antrag jüdischer Aktivisten zurückgewiesen, um Deir
Yassin Remembered zu verbieten, die dynamischste und am
wenigsten schüchterne unter den palästinenserfreundlichen
Organisationen, wegen ihrer Verbindung zu mir (neben anderen
Sünden). Am Samstag den 30. März wurden auf der jährlichen
Generalversammlung der Solidaritätskampagne für Palästina, von
Tony Greenstein und Roland Rance zwei Anträge gestellt,
beide extrem lang und ausführlich. Sie forderten von den
Freunden Palästinas, dass sie den „Kampf gegen den
Antisemitismus und gegen das Leugnen des Holocaust“ zu ihrem
Hauptanliegen machen sollten. Chuzpe ist noch untertrieben für
solch eine Frechheit. Diese Kerle sind so unehrlich, dass ich
überhaupt nicht überrascht war zu hören, dass Greenstein als
Kreditkartenbetrüger entlarvt wurde. Greenstein hatte
Deir Yassin Remembered, den DYR Vorsitzenden Prof. Dan
McGowen, den britischen Direktor von DYR, Paul Eisen, und
unseren Freund Gilad Atzmon im Guardian besudelt, in
einem Stück namens Die Schattenseite der Solidarität und
hatte mich in einem langen Text mit dem Titel Antisemitismus
ist keine Antwort auf den Zionismus angegriffen. Sie
versuchten, DYR zu stoppen, obwohl DYR Stipendien für
palästinensische Kinder vergibt, der breiten Masse zu
Kenntnissen verhilft und an Kampf und Leiden der Palästinenser
erinnert. Sie bekamen eine Antwort von Paul Eisen,
Ramzy Baroud und Gilad.
Beide Anträge wurden von einer
höchst erstaunlichen absoluten Mehrheit von 95% abgelehnt, wie
Mary Rizzos Blog berichtete. Die britischen Freunde von
Palästina entschieden zu Gunsten der Gedankenfreiheit und des
Pluralismus und wiesen das Bett des Prokrustes
aus beschränkter Gesellschaftsanalyse zurück, das ihnen von den
jüdischen Aktivisten aufgezwungen wurde. Wenn die Anträge
angenommen worden wären, hätten sie nicht nur Gilad oder Paul
Eisen oder mich selbst delegitimiert, sondern auch Paul Neumann,
Jimmy Carter und Walt und Mearsheimer. Jeder, der auf die
israelische Lobby hingewiesen hätte, wäre als Antisemit
eingestuft und verbannt worden. Es hätte den Glauben an den
jüdischen antizionistischen Schöpfungsmythos obligatorisch
gemacht: Nur der Imperialismus ist schuld, die jüdische Lobby
dagegen ist eine Erfindung von Antisemiten, ein Ansicht, die
wunderbar von M. Ahmad zerpflückt worden ist. Die
Beschäftigung mit dem Holocaust wäre zu einer Pflicht für jeden
Freund Palästinas geworden. Diejenigen aber, die Palästina die
Freiheit wünschen, wollen selbst auch frei sein: frei zu lesen,
zu schreiben und zu sagen, was immer ihr Brauch ist. Und um
diese süße Freiheit zu schützen, weisen sie das jüdische
Diktat zurück.
Dies ist eine Kleinigkeit,
verglichen mit den Wundern der Natur oder auch mit einigen
großen Kämpfen, die Menschen anderswo austragen; aber man sollte
es nicht als unwichtig abtun – dies war ein wichtiger Kampf und
ein großer Sieg, wenn auch auf unserer Rennbahn. Wie Churchill
einst sagte, es nicht der Anfang vom Ende, sondern das Ende des
Anfangs. Viele lange Jahre lang haben wie bekommen, was immer
sie verlangten. Rechte Juden griffen Ken Livingstone und Jimmy
Carter wegen ihres „Antisemitismus’“ an, und linke Juden
attackierten meinen Freunde und mich aus dem gleichen Grunde und
mit der gleichen Bösartigkeit. Man konnte das Wort „Jude“ nicht
ohne anbetungsvolle Bewunderung in den Mund nehmen und
gleichzeitig seinen Platz in der Gesellschaft behaupten wollen.
Durch diesen Ansturm verängstigt,
pflegten furchtsame Verbündete auszusteigen, sich an der
Verfemung selbst zu beteiligen, Briefe nicht mehr zu beantworten
und sich der Verdammung anzuschließen. Websites, ganz zu
schweigen von Printmedien, veröffentlichten meine Essays nicht,
Veranstalter von Konferenz luden wieder aus. Wie die in Leder
gekleideten Kommissare der gefürchteten Tscheka pflegten
jüdische Aktivisten in jede Diskussion zu platzen, ihren einzig
wahren Diskurs aufzuzwingen, und die Leute nahmen Haltung an.
Nur die geistig Stärksten, die Entschiedensten und die am
meisten Freiheitsliebenden widerstanden ihren Schwarmangriffen.
Ist das Votum von London der Vorbote eines Wandels? Könnte es
sein, dass der lange Winter unserer Unzufriedenheit schließlich
vorbei ist?
Es ist möglich, denn dies ist der
vorherrschende Wind aus dem Osten. Trotz seiner eigenen
wunderbaren Zivilisation und seiner leiblichen Genüsse, hat der
Westen seine besseren und tiefschürfenderen Ideen immer vom
Osten übernommen, sei es das Christentum aus Palästina oder den
Sozialismus aus Russland. Und jetzt bietet Russland Wolja
an, unbegrenzte und unübersetzbare russische Freiheit, als ein
Gegenmittel gegen den Krieg um Freiheiten, auch bekannt unter
„Krieg gegen den Terror“. Russland ist unglaublich frei oder
eben voll von Wolja: Man kann im Restaurant oder in der
Kneipe rauchen, man muss keinen Sicherheitsgurt anlegen, sogar
Parkplätze sind unentgeltlich, so vorhanden. Aber wichtiger
noch, man kann praktisch alles sagen und schreiben und
veröffentlichen. Neben all den Freiheiten, die im Westen zur
Verfügung stehen, können Russen schwul sein oder über Schwule
spötteln, den Holocaust beklagen oder bedauern, dass er zu
schnell vorbei war, Feministinnen sein oder über sie herziehen,
Israel lieben oder zu seiner schnellen Auflösung aufrufen. Ja,
jede liberale und in jüdischem Besitz befindliche Zeitung im
Westen beklagt den Mangel an Freiheit in Russland unter dem
„blutigen KGB-Diktator Putin“ (oder in Venezuela unter dem
blutigen Diktator Chavez, oder in Kuba unter dem blutigen
Diktator Castro – jeder, den sie nicht mögen, ist immer ein
blutiger Diktator, nicht war?); die Russen sind jedoch frei von
politischer Korrektheit und Judenverehrung, dieses ärgerliche
Merkmal des Westens nach dem 2. Weltkrieg.
Kürzlich besuchte eine Gruppe
russischer Schriftsteller Israel und traf sich dort mit ihren
Lesern: Es gibt mehr als eine Million russisch-sprechende
Israelis. Die Leser redeten nicht lange um den heißen Brei herum
und verlangten von den Autoren, sich der herrschenden Ideologie
anzuschließen: den Iran zu verdammen, Israel zu glorifizieren,
diese Festung der Demokratie im Mittleren Osten, die russischen
Waffenlieferungen an die Araber anzuprangern und die russischen
Antisemiten in die Pfanne zu hauen. Juden fühlen sich gewöhnlich
wie Gläubiger und sie stellen sehr leicht Forderungen.
Ein westlicher Besucher würde dieser
Güter liefern, und würde sich vermutlich nur anschließend
gegenüber seinem Ehegatten beschweren. Das Leugnen des
allgegenwärtigen und ewigen Antisemitismus ist nicht besser als
das Leugnen des Holocaust. Aber Russland ist frei, und als die
Leser der russischen Schriftstellerin Maria Arbatova darum
baten, zu berichten, wie sie unter dem Antisemitismus leide und
wie furchtbar das Leben in Russland unter Putins Diktatur sei,
hatte sie Bedenken.
Vergesst es, sagte sie.
Moskau ist heute wie das Paris der 1960er: Wir haben mehr
Veranstaltungen an einem Tag als ihr in einem Monat habt. Heute
ist das prächtige Moskau ein Weltzentrum. Was euch anbelangt, so
haben wir euch satt, auch die Araber haben euch und eure
Forderungen satt. Dieser fehlgeschlagene westliche Lebensentwurf
hat sich abgelebt. Wenn meine Kinder jemals daran denken
sollten, nach Israel zu ziehen, würde ich ihnen sagen: Nur über
meine Leiche! Russland hatte nie Antisemitismus. Ich habe ihn in
meinem ganzen fünfzig Jahren Leben nie erfahren. Ihr sagt, Juden
könnten keine Arbeit finden? Es ist meiner jüdischen Mutter
einmal passiert, dass sie abgelehnt wurde, aber sie fand sofort
einen anderen, besseren Job, indem sie ihre Familienverbindungen
spielen ließ.
Dies war die Antwort einer
prominenten russischen liberalen Schriftstellerin an ihre
israelischen Leser. Die führende feministische Schriftstellerin
Maria Arbatova ist weit davon entfernt, eine russische
Nationalistin zu sein, ihr Großvater war ein wichtiger jüdischer
Führer, ihr Urgroßvater ein Begründer der zionistischen Bewegung
im zaristischen Russland. Aber ihre Entgegnung war universal und
paradigmatisch. Im Westen könnten das Tony Jutt und Harold
Pinter sagen – vielleicht Philip Weiss. Andere haben noch Angst.
Aber die Worte, die die deutschen Bischöfe aussprachen und dann
bereuten, können problemlos im freien Russland von Nachfahren
von Juden oder jedem sonst geäußert werden. Der mystische Charme
der Juden hat sich in Russland abgenutzt, wo man sich um
politischen Korrektheit nicht kümmert, wo die Kirchen voll sind
und die Menschen sich gegenseitig segnen mit den Worten
„Christus ist auferstanden“. Anstatt dass Russland den Juden
Angst einjagt und sie verletzt, wie es die amerikanische
multikulturelle Theorie gerne hätte, betrachten sich so viele
meiner Moskauer Freunde „einfach als Russen“, obwohl sie ein
jüdisches Elternteil haben oder zwei, und mit einer
Mischehenrate von etwa 80 % gehört das russische Judentum der
Vergangenheit an. Viele von ihnen wurden durch die zionistische
Propaganda irregeführt, aber sie hatten genug Zeit, dies zu
erkennen und ihre Hast zu bereuen.
Israel hat viel getan, sie eines
Besseren zu belehren: Sogar sehr wohlhabenden russische Juden
fühlten sich in ihrer „historischen Heimat“ alles andere als
willkommen: Der Oligarch Gusinsky sieht sich Polizeiermittlungen
gegenüber, und wann immer er von seinem spanischen Wohnsitz nach
Israel kommt, wird er direkt in das Polizeihauptquartier
gebracht; das Bankkonto eines der reichsten russischen Juden,
Gaidamak, wurde konfisziert. Weniger prominente Russen wurden
von etablierten israelischen „Oldtimern“ und ihren Nachkommen
misshandelt und ausgebeutet, genauso wie vor etwas vierzig
Jahren im Exil lebende Juden aus Marokko misshandelt und
ausgebeutet wurden. Kaum einer von ihnen schaffte es eine
Karriere zu machen, die der Erwähnung wert wäre. Der von den
israelischen Führern geplante und vorangetriebene ewige Krieg
hat für sie wenig Attraktivität; die Geschosse der Hisbollah
lehrte sie, dass Israel nicht mehr immun und unverwundbar ist,
und eine bevorstehende israelische Offensive gegen Syrien oder
den Iran könnte auch viele Verluste unter israelischen Bürgern
verursachen. Korrupt sogar nach dem Standard des Mittleren
Ostens, voreingenommen bis zur Feindseligkeit, ist Israel der
wahrscheinlich am wenigsten attraktive Ort für aufstrebende und
dynamische Menschen.
Zehntausende von russischen Israelis
ziehen als Ergebnis davon zurück nach Russland und finden ihr
wirkliches Land und ihr wahre Heimat dort in ihrem
Ursprungsland. Die zionistische Idee hatte eine romantische
Anziehungskraft, aber solche Dinge sind nicht von Dauer. In den
1970er Jahren traf ich in Tansania ein paar farbigen Amerikaner,
die auf einer Welle der romantischen Suche nach ihren Wurzeln
nach Afrika gezogen waren. Die Erfahrung dauerte kaum mehr als
fünf Jahre. Während dieser Zeit kamen sie zu der Erkenntnis,
dass sie Amerikaner in Freud wie in Leid sind, die Afrikaner
dagegen in vielen Nationen und Stämmen organisiert sind und sie
in keinen von diesen hineinpassten. Man kann nicht nach
zweihundert Jahren „zurückkommen“, ganz zu schweigen nach
zweitausend Jahren.
Der russische Wissenschaftler Dan
Axelrod aus St. Petersburg erzählte mir über seine israelischen
Verwandten, dass sie liebend gerne in diese Stadt zurückkehren
und ihre Apartments zurückkaufen würden, die sie vor etwa zehn
Jahren in der Jeltzin-Zeit verkauft hatten. Die einzige Sache,
die sie daran hindert, ist die traurige Tatsache, dass der Wert
dieser Apartments seitdem um das Zehnfache gestiegen ist.
Axelrod hat keine derartigen Sorgen: Dieser Sohn jüdischer
Eltern ist ein regelmäßiger Kirchgänger, befolgt streng die
orthodoxe Fastenzeit, ist mit einer russischen Frau verheiratet,
taufte seine Kinder und liebt seine Heimat Russland. Es scheint,
dass Russland eine Antwort auf die jüdische Frage gefunden hat:
Weder mit deutscher Wut noch durch amerikanische Unterwerfung,
sondern durch Assimilierung in christlicher Liebe. Dieses
russische Modell ist das einzige, was funktionieren kann, und es
wird schließlich auch in Palästina funktionieren.
Dies ist ein zusätzlicher Grund,
warum Putins Russland vom offiziellen zionistisch-kontrollierten
westlichen Mainstream so sehr gehasst und verunglimpft wird, und
darum wird es von den Freunden Palästinas geliebt. Ein
schwedischer Freund und Freund Palästinas, Stefan L., schrieb
mir: „Sie haben mit Putin absolut recht. Dass er eine Geisel der
Oligarchen ist, ist eine Sache, aber wenn er aus dem ein oder
anderen Grund die Wahrheit ausspricht – lieben wir ihn, den
kleinen rattengesichtigen Spion mit dem Kalaschnikow-Akzent. Und
jedes Mal, wenn wir an Jeltzins Existenz erinnert werden,
schwören wir ihm ewige Treue.“
(Übersetzung: Friederike Beck)
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